Prof. Andreas Herrmann

Vocal Productions


Wenn wir die Methodik des Chorleitens untersuchen, geht es um verschiedene Dinge wie
- die Beschäftigung des Chorleiters mit dem Werk
- das Aufbereiten des Chorwerks für die Chorprobe
- das Proben und Erziehen des Chores

Zunächst wollen wir uns intensiv mit dem letzten Punkt auseinandersetzen - Die Veranstaltung trägt daher den Namen "Methodik der Chorerziehung".
Stacks Image 5



Kapitel 1 - Die Chorprobe als Lernvorgang

Einige Überlegungen zu den Fragen „Zeitpunkt und „Ablauf der Probe: Die Chorprobe ist kein Testvorgang, wie es das Wort „Probe“ irrigerweise nahelegt. Ebensowenig ist sie ein Trainingsvorgang, der durch repetierendes Üben zur Leistungssteigerung führt (entsprechend der Grundbedeutung des französischen Wortes „répétition“ und des englischen „rehearsal“). Ein Versuch, ob „es schon geht“ und dessen Wiederholung haben nichts mit sachgemäßem Proben zu tun. Das Werk soll nicht ausprobiert, sondern aufgebaut werden. Der Chorleiter ist nicht Prüfer, sondern Vermittler. Der Chorsänger wird nicht herausgefordert, sondern informiert. Die Chorprobe ist ein Lernvorgang.

Sie unterliegt damit den allgemeinen Bedingungen des Lernens. Beim Lernen nun spielt, neben der Wahl des richtigen Lernpensums, auch die Wahl der günstigsten Reihenfolge und damit der richtigen Zeitpunkte eine wesentliche Rolle. Die Wahl des geeigneten Zeitpunktes wird erschwert durch ein Hauptproblem allen Lernens:

- Man versteht und behält ein Detail nur, wenn man seinen Zusammenhang kennt.
- Man versteht und behält einen Zusammenhang nur, wenn man das Detail kennt.

Jeder Lernende kann diese Sätze, zumal den ersten, mit einer Fülle von Erfahrungen aus der Schul- und Studienzeit belegen. Man denke an die mühsame Paukarbeit der ersten Lektionen einer neuen Fremdsprache, die so schnell zu Ermüdung und Unlust führt, wenn erst der Reiz des Neuen verflogen ist. Die unverbundenen Einzelheiten müssen eingeprägt werden, ohne dass ein wenigstens zu ahnender Zusammenhang schon dazu einlädt.

In einem viel umfassenderen Sinn beschreibt die Lernpsychologie, wie sich Eindrücke in ein früh vorgeprägtes Raster einhängen und einander zuordnen, wie eine Unvollkommenheit dieses Rasters das assoziative Angliedern und damit das Aufnehmen neuer Eindrücke erschwert und wie dadurch die Entwicklung eines Menschen eingeschränkt und unterbunden werden kann. Die zahlreichen populären Lehrbücher des Lernens empfehlen immer wieder das bewusste assoziative Verbinden eines neuen Stoffes mit schon Bekanntem, auch aus ganz fernliegenden Bereichen, wie das Zurückführen von Zahlen auf Wortgruppen, von Namen auf ähnlich klingende Bildbegriffe usw. Lernen heißt Zuordnen.

Der zweite Satz („Zusammenhang ist erst bei Kenntnis des Details verständlich“) scheint eher selbstverständlich zu sein. Doch kennt man auch die verbreitete Neigung zu Diskussionen über „große Zusammenhänge“ und ihr Ausarten in Verschwommenheit und aggressives Vorurteil.

Aus der Musikerziehung kennen wir die öde, lusttötende Paukarbeit ebenso wie eine nebelhafte „Ganzheitlichkeit“. Die selbstverständlich auftretenden Widerstände und Zweifel werden moralisch bekämpft: Die Widerstände werden als „Faulheit“ durch „Fleiß“ überwunden, die Zweifel als „intellektuell“ einer niederen Ebene im Menschen zugewiesen und durch die Erhebung der Fragestellung auf die höhere Ebene des „Gefühls“ gegenstandslos gemacht. Der Musikerstand ist einer der letzten, in dem Lernprobleme nicht im Bereich der Einsicht, sondern dem des Charakters angesiedelt werden.

Eine Arbeitsweise, die der Natur des Lernens entgegenkommen will, muss die beiden Wege,

1. den vom Detail zum Ganzen,
2. den vom Ganzen zum Detail führenden,

systematisch verbinden und ineinander verschränken.


Aufgabe 1:

Formulieren Sie für dieses Chorstück - in der Annahme, dass Sie es mit einem Übungschor aus Studenten vorbereiten sollen - zwei fünfminütige Arbeitsabschnitte, die sie gerne in ihre erste dreißigminütige Probe mit dem Chor einbauen möchten:
Einmal vom Detail ins Ganze gehend und einmal vom Ganzen zum Detail gehend. Lernen Sie es dazu vorher gut, spielen Sie es durch, singen Sie alle Stimmen und spielen dazu jeweils die anderen.

Bitte schicken Sie die Ausformulierung der beiden Arbeitsabschnitte bis spätestens 27.4. an Prof. Andreas Herrmann



zu Kapitel 2