Prof. Andreas Herrmann

Vocal Productions


Dmitrij Schostakowitsch: Symphonie Nr.13 (Babi Yar)


für Bariton-Solo, Männerchor und Orchester, b-Moll, op. 113

Text:
russisch | Gedichte von J. Jewtuschenko (*1932)

Entstehung: 1962 | UA 18.12.1962 Moskau, Dirigent Kyrill Kondraschin. Beim Publikum triumphal aufgenommen, jedoch keine offizielle Presseresonanz.
Positive Aufnahme nach der westlichen EA 1970 in den USA, ausgezeichnet mit dem Internationalen Kritikerpreis 1970.

Aufführungsdauer: ca. 60'

Aufbau: 5 Sätze (Sätze 3.-5. durchkomponiert)
Бабий Яр (Babij Jar): Adagio
Юмор (Humor): Allegretto
В магазине (Im Laden): Adagio
Страхи (Ängste): Largo
Карьера (Eine Karriere): Allegretto

Inhalt:
1. Erinnerung an den Massenmord an jüdischen Menschen in der Schlucht bei Kiew 1941 durch deutsche Soldaten, Antisemitismus in der Geschichte und Appell dagegen | 2. Darstellung des Witzes als Herrschaftskritik und als Entlarvung von Heuchelei | 3. Leistungen russischer Frauen für ihre Familien | 4 Erinnerung an Ängste vor Denunzianten und Staatsterror | 5. Vorbilder sind Menschen, die auch gegen äußeren Druck die Wahrheit bekennen.

zur Besetzung:
Vokalsolisten: B(G-e') | Hohe Anforderungen an Stimmkraft (große Stimme), lange Phrasen, allerdings häufige und längere Pausen, lyirische Farbe z.B. im 3. Satz notwendig. Solistische Teile in allen Sätzen.

Chor: MCh(B), G-e', an einer Stelle C gefordert | Männerchor in Basslage einstimmig, nur eine kurze Oktavenstelle und eine einfache harmonische Dreiteilung. Teile für Chor in allen Sätzen. Es sind 40-100 Stimmen vorgeschrieben. Fast immer kurze Phrasen im Dialog mit dem Solisten, durch Instrumentierung keine besonderen Anforderungen an die Stimmkraft.

Instrumentalbesetzung: 2.Pic.3(3.auch Eh).3(3.auch Es und Bass).3(3.auchKfg) - 4.3.3.1 - Pk - Schl - 2-4Hrf - Klav - Str (16-20/14-18/12-16/12-16/10-14)

Wirkung/Besonderheiten:
Starke musikalische Gegensätze und fein differenzierte Klangwirkungen. Klangballungen von massiver Schärfe, düsterexpressive Textillustration, sarkastisch verfremdete Volkstümlichkeit, Ausgelassenheit und Bitterkeit. Aber auch ruhige, flächige Instrumentalstellen in
Kammermusikbesetzung und lichter Klangfarbe.

Verlag:
1 LM im Bonner Katalog | Sikorski DirPart (deutsch) | Leeds Music, Kanada

Literatur:
Volkow, Solomon (Hrsg.): Die Memoiren des D.S., Knaus 1979, bes. S. 178ff.

Text (deutsche Übersetzung)
I. Babi Jar

CHOR

Es steht kein Denkmal über Babi Jar.
Die steile Schlucht mahnt uns als stummes Zeichen.
Die Angst wächst in mir.
Es scheint mein Leben gar
Bis zur Geburt des Judenvolks zu reichen.

SOLO

Mir ist, als wenn ich selbst ein Jude bin,
Verlass Ägyptens Land in Todesnöten.
Gekreuzigt spüre ich, wie sie mich töten,
Aus Nägelmalen rinnt mein Blut dahin.

Jetzt bin ich Dreyfus, trage ich sein Gesicht.
Die Spießer, meine Kläger, mein Gericht.
Rings seh’ ich Gitter, Feinde dicht bei dicht.

Muss niederknien, hart angeschrien und angespien.
Und feine Dämchen ganz in Brüssler Spitzenfähnchen
Stechen mir mit Schirmen ins Gesicht.

Jetzt seh’ ich mich in Bialystok als Junge.

CHOR

Blut, Blut bedeckt den Boden rings umher.
Es gröhlt betrunkenes Volk mit schwerer Zunge,
Nach Wodka und nach Zwiebeln stinkt es sehr.

SOLO

Hart treten Stiefel mich, wie alles Schwache,
Am Boden liegend lässt man mich im Stich.

CHOR

»Schlagt tot die Juden! Vaterland erwache!«
Ein reicher Händler schändet, Mutter, dich!

SOLO

O Russland, du mein Volk, getreulich denkst du
International in deinem Handeln.

Doch ehrfurchtslose Frevler suchen längst
Die Reinheit deines Namens zu verschandeln.
Ich weiß auch um die Güte hierzuland,

Doch kürzlich, keiner wagt es zu verbieten,
Hat eine Schar Antisemiten
sich höhnisch

SOLO UND CHOR

»Bund des Russenvolks« genannt!

SOLO

Jetzt scheint es mir: ich selbst bin Anne Frank,
Ein knospenzarter Zweig im Frühlingswehen.
Ich liebe nur. Was braucht es Worte bang,

Wenn ich nur weiß, dass Menschen sich verstehen.
Wie wenig Licht und Luft hier im Quartier!

Kein grünes Blatt, der Himmel ist verhangen.
Doch eines bleibt: Wir können uns umfangen
Voll Zärtlichkeit im dunklen Zimmer hier.

CHOR

»Wer kommt herauf!?«

SOLO

»Sei furchtlos, nur das Rauschen
Des Windes ruft: der Frühling naht
Sei leis', komm her zu mir,
Und lass uns Küsse tauschen!«

CHOR

»Zerschlägt man die Tür?«

SOLO

»Nein, es bricht nur das Eis...«

CHOR

Über Babi Jar rauscht leis' das wilde Gras.
Die Bäume blicken streng, wie Richter schauen.
Das Schweigen hier ist Aufschrei ohne Maß.
Mein Haar erbleicht vor namenlosem Grauen.

SOLO

Und schweigend bin ich Widerhall des Schrei's,
Von allen, deren Blut man hier vergossen.
Bin selbst der sinnlos hingemähte Greis.
Bin selbst der Kinder eins, die hier erschossen.
Was hier geschah: Ich kann es nie vergessen!

CHOR

Die »lnternationale« tönt und gellt,
Wenn keine Menschenseele mehr besessen
Von Judenfeindschaft hier auf dieser Welt.

SOLO

Der Juden Blut fließt nicht in meinem Blut.
Doch tiefer Hass verfolgt mich bis zum Schlusse:
Für Judenfeinde bin ich wie ein Jud’.

SOLO UND CHOR

Und darum steh’ ich hier als wahrer Russe.


II. Der Witz

SOLO

Cäsaren, Regenten und Könige,
Die Herren im Rampenlicht,
Sie kommandierten nicht wenige,
Beim Witz jedoch, beim Witz jedoch ging das nicht.
Zu Leuten mit Ruhm und Besitz,
Die lebten so hin in Saus und Braus,

SOLO UND CHOR

Kam einst der Äsop voller Witz:
Da sahen sie gleich wie Bettelpack aus.

SOLO

Es kriechen, den Blick himmelwärts,
Die Heuchler mit schleimiger Schneckenspur.

SOLO UND CHOR

Von Nasreddin Hodscha ein Scherz
Fegt alle weg wie ‘ne Schachfigur!

SOLO

Man wollte den Witz einfach kaufen,

CHOR

Doch so bringt ihn keiner zum Schweigen.

SOLO

Man rief: »Knallt den Witz über’n Haufen!«

CHOR

Da tät’ er das Hinterteil zeigen!

SOLO

Der Kampf mit dem Witz fällt äußerst schwer.
Einst köpften ihn die Strelitzen

CHOR

Und zeigten den blutigen Schädel her
Auf ihren Lanzenspitzen.

SOLO

Da zogen mit Pauken und Trara
Die Gaukler zum Mummenschanz,
Gleich rief unser Witz: »Bin wieder da!«

SOLO UND CHOR

Und schmiss seine Beine im Tanz.

SOLO

Im schäbigen Rock, von allen mit Spott
Geplagt und ganz verzagt,
Ward er als politischer Feind verklagt
Und ging nun den Weg zum Schafott.
Voll Demut und Reue der Ärmste schritt,
als Sünder dem Jenseits zu.
Doch plötzlich er seinen Lumpen entglitt:
Da war er weg

SOLO UND CHOR

Im Nu!

SOLO

Man steckte den Witz in den Kerker,
Zum Teufel, das hat nicht gereicht.

SOLO UND CHOR

Trotz Gitter und Stein: Er war stärker
Und schritt hindurch ganz leicht.
Er hustet, und es schmerzen die Rippen,
Doch er hat Tritt gefasst.

So stürmt er, ein Lied auf den Lippen,
Bewaffnet zum Winterpalast.

SOLO

Gewöhnt an die Blicke voller Neid,
Die schaden ihm sicherlich nicht,
Ist er auch zum Witz über sich bereit:
Das gibt dem Witz Gewicht.

SOLO UND CHOR

Er bleibt ewig.

Stets wendig.

Lebendig.

SOLO

Der Witz kommt an alles heran.

SOLO UND CHOR

Hört her: Es lebe der Witz!
Der Witz ist ein tapferer Mann.


III. Im Laden

Tief vermummt, wie Kampfbrigaden,
Stets zur Heldentat bereit,
So betreten sie den Laden:
Frauen schweigend, Seit an Seit.

CHOR

Oh, sie klappern mit den Kübeln
Mit den leeren Kannen laut,
Und es riecht nach Gurken, Zwiebeln,
Räucherfisch und Bohnenkraut.

SOLO

Frierend stehe ich schon lange,
Bis zur Kasse hat man’s schwer.
In der dichten Menschenschlange
Wird es wärmer um mich her.

SOLO UND CHOR

Frauen warten ohne Ende,
Freundlich ist ihr Haus bestellt,
Und es halten ihre Hände
Stumm das schwerverdiente Geld.

SOLO

Russlands Frauen, die sich plagen,
Für ihr Land mit aller Kraft.
Ob es gilt, zu betonieren,
Zu bepflanzen, zu planieren:

SOLOUNDCHOR

Alles haben sie ertragen,
Alles haben sie geschafft.

SOLO

Unser Schicksal lastet lange schon
Auf den Frauen, die in harter Fron.

SOLOUNDCHOR

Schändlich ist’s, sie zu betrügen,
Falsch zu wiegen, welch ein Hohn!

SOLO

Ich bezahle Mehl und Flaschen,
Sehe noch im Lampenschein
Die vom Tragen ihrer Taschen
Müden Hände, gut und rein.


IV. Ängste

CHOR

Die Ängste in Russland sind tot,
Wie Phantome aus alter Zeit,
Alten Frauen gleich im grauen Kleid,
Die vor Kirchen erbetteln ihr Brot.

SOLO

Einst erlebten wir alle mit Schrecken
Die Triumphe der Lügenbagage.
Ängste lauerten rings in den Ecken
Und verschonten nicht eine Etage,
Zähmten die Menschen mit hämischer Fratze,
Druckten allem ihr Siegel auf,

Lehrten schreien, wo Schweigen am Platze,
Für den Schrei nahm man Schweigen in Kauf.
Fern die Ängste, die wir einmal kannten,
Seltsam scheint die Erinnerung mir:

Jene Angst vor dem Denunzianten
Oder Angst, wenn es klopft an der Tür.
Auch die Angste, mit Fremden zu sprechen
Oder gar mit der eigenen Frau.
Ängste, die das Vertrauen zerbrechen
Nach dem Wandern zu zweit durch das Grau.

CHOR

Mutig sah man im Schneesturm uns bauen.
Trotz Beschuss ging es furchtlos zur Schlacht.
Doch wir fürchten sehr zu vertrauen,
Kein Gespräch ohne Angst und Verdacht.

Doch dies alles warf uns nicht nieder,
Weil du deine Ängste bezwangst,
Überkam, o mein Russland, nun wieder
Deine Feinde die große Angst.

SOLO

Neue Ängste sich drohend erheben:
Angst, nicht ehrlich zu dienen dem Land,
Angst, bewusst die Idee aufzugeben,
Die schon morgen als Wahrheit erkannt.
Angst, sich maßlos zu überschätzen,
Angst, auf Worte des andern zu bau’n.
Angst, durch Argwohn den Freund zu verletzen,
Nur sich selbst völlig blind zu vertrau’n.

CHOR

Die Ängste in Russland sind tot...

SOLO

Und wie ich diese Zeilen hier schreibe,
Noch im Banne von Worten und Klang,
Fühle ich eine Angst wird mir bleiben:
Ob mir hier auch das Beste gelang.


V. Karriere

SOLO

Die Priester lehrten, dass verblendet
Der Galilei in seinem Wahn,

CHOR

Der Galilei in seinem Wahn.

SOLO

Erst als sein Leben war beendet,

SOLO UND CHOR

Begriff man recht, was er getan.

SOLO

Ein Wissenschaftler jener Zeit,

SOLO UND CHOR

Er war wie Galilei gescheit,

SOLO

Fand auch, dass sich die Erde dreht.

SOLO UND CHOR

Er hat Familie, ihr versteht.

SOLO

Sich selbst zum Ruhm, der Frau zur Ehre,
Begeht er Hochverrat wie nie und denkt:
So mache ich Karriere,

SOLO UND CHOR

Doch in der Tat zerstört er sie.

SOLO

Planetenbahnen zu verstehen,
Hat Galilei gewagt. Ihr wisst,

SOLO UND CHOR

Er wurde weltberühmt.

SOLO

Wir sehen,

SOLO UND CHOR

Er war ein rechter Karrierist!

CHOR

Lasst laut mich preisen die Karriere,
Die ich bei großen Männern treff’ :
Pasteur und Shakespeare gebt die Ehre,
Auch Newton und Tolstoi, und Tolstoi.

SOLO

Lew?

Chor

Lew.

Warum man sie mit Dreck beschmierte?
Talent trotzt jeder Diffamie.

SOLO

Vergessen, wer sie diffamierte,

CHOR

Doch die es traf, vergisst man nie.

SOLO

Eroberer der Stratosphäre,
Ihr Ärzte, an der Pest krepiert,
Ihr seid die Helden der Karriere,

SOLO UND CHOR

Ihr habt mir meinen Weg markiert.

SOLO

Ich glaube eurem wahren Glauben,
Und euer Vorbild bricht mir Bahn.
Ich kann Karriere mir erlauben,
Grad weil ich nichts dafür getan.


Yevgeny Yevtushenko
Nachdichtung: Jörg Morgener
Musikverlag Hans Sikorski, Hamburg


Sprachliches:

Schostakowitsch ging an die Grenze des von der sowjetischen Zensur Erlaubten. Ein Beispiel ist der Beginn des 4. Satzes über die Ängste:
Die Übersetzung lautet:
"Die Ängste in Russland sind tot, …"
Das russische Original lautet
"Umirayut v Rossii strakhi, " …
Hier ist die Reihenfolge umgekehrt, was für die Wirkung ganz entscheidend ist:
Umirayut - Tot — v Rossii - in Russland — strakhi - die Ängste
Anstatt also ein fröhliches Lied über ein angstfreies Russland zu schreiben, beschreibt Schostakowitsch mit dem Wort "umirayut" (Es sind tot …) ein Horrorszenario was Russland betrifft. Dass am Schluss noch das Wort "Strachi" unbetont kommt und damit eigentlich den Sinn ins Gegenteil verkehrt, liest man nur auf dem Papier. Das ist also für die tumbe Zensur gedacht. Der interessierte Hörer dagegen nimmt die bedrückende Situation war und assoziiert "Tod und Angst schlimmer denn je …".


Aufgabe


bitte lesen Sie als Hintergrundinformation die folgenden beiden Essays über Schostakowitschs Komposition:

Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 13 “Babi Jar”

“Babi Jar” ist der Titel eines 1961 entstandenen Gedichts des sowjet-russischen Autors Evgeny Evtuschenko (geb. 1933). Es wurde am 19. September desselben Jahres in der sowjetischen Zeitschrift Literaturnaya Gazeta veröffentlicht. Dies geschah während der als “Tauwetter” bekannten Periode der sowjet-russischen Geschichte. (Die Bezeichnung ist dem Titel eines Kurzromans von Ilya Ehrenburg entnommen, der 1953, ein Jahr nach Stalins Tod, erschienen war.)

Unter Chruschtschow (Parteivorsitzender von 1957 bis 1964) hatte ein Prozeß der “Ent-Stalinisierung” eingesetzt, der eine neue Phase der Detente mit dem Westen einleitete, eine scheinbare Lockerung offizieller Kontrollen der individuellen Meinungsfreiheit innerhalb Russlands mit sich brachte und schließlich eine Förderung des kulturellen Austausches begünstigte, wie es sie seit den Tagen Lenins nicht mehr gegeben hatte. Der junge Evtuschenko fand sich plötzlich in der Rolle eines Sprachrohrs dieses neuen Geistes in der sowjetischen Gesellschaft: In einem Land, das viel zu lange unter dem Terror und der Unterdrückung des stalinistischen Regimes stagniert hatte, wurden seine Gedichte zum Ausdruck von persönlicher Aufrichtigkeit und jugendlichem Optimismus. Als Schostakowitsch auf Evtuschenkos Gedicht stieß, beeindruckten ihn sofort seine musikalische Möglichkeiten. Babi Jar ist der Name einer Schlucht bei Kiew, in der während des zweiten Weltkriegs Tausende von Juden massakriert wurden und ohne Mahnmal begraben sind.

Schostakowitsch war von dem Thema tief berührt. Er hatte bereits zwei “Gedenk”-Sinfonien komponiert, die den revolutionären Ursprung der UdSSR verherrlichten, während er in Werken wie dem Liederzyklus Aus jüdischer Volkspoesie und dem Achten Streichquartett eine Art des Ausdrucks gefunden hatte, die seine persönliche Haltung gegen den Antisemitismus verdeutlichte - eine Form der rassistischen Verfolgung, die keinesfalls auf das Nazi-Regime beschränkt war.

Die Vertonung des Gedichts begann als ein eigenständiges Stück, doch bald fasste Schostakowitsch den Plan, das Werk zu einer Sinfonie auszubauen, die weitere Gedichte Evtuschenkos verarbeitete. Als das Konzept zu reifen begann, sandte Evtuschenko, der mittlerweile ganz in die kreative Zusammenarbeit absorbiert war, Schostakowitsch ein neues Gedicht mit dem Titel “Ängste”, das als vierter Satz komponiert wurde, der wiederum zu der Vertonung von “Karriere” als Finale überleitet. Anfangs gab es keine besondere thematische Verbindung zwischen den fünf Gedichten, doch sie boten dem
Komponisten ein musikalisch-dramatisches Gerüst für eine zusammenhängende Sinfonie in fünf Sätzen - ein Gerüst, das bereits ein charakteristisches Gepräge aufwies. Es besteht aus einem vorwiegend langsamen, grüblerischen ersten Satz, der in bewusstem
Kontrast zu einem kraftvollen, selbstbewußten Scherzo steht; an dieses schließt sich eine durchgehende Folge von drei musikalisch aufeinander bezogenen Sätzen an, die in einem ausgedehnten Finale kulminieren. (In gleicher Weise sind auch die Achte und Neunte Sinfonie sowie das berühmte Erste Violinkonzert aufgebaut.)

Doch hier haben wir es mit einer ganz besonderen Art von Sinfonie zu tun, einer Sinfonie, die - wie auch die im Anschluß entstandene Vierzehnte - erstmals wieder Worte verwendet, seit Schostakowitsch sich nach der öffentlichen Schmach, der er 1936 als junger Mann durch die von Stalin unterstützte Hetze gegen seine Oper Lady Macbeth von Mtsensk ausgesetzt gewesen war, den rein instrumentalen Formen zugewandt hatte. In gewissem Sinne bildet diese Sinfonie eine Art “coming out” eines Komponisten, dessen Musik bislang die Zensur auf aesopische Weise zu hintergehen gesucht hatte. Insgesamt zeigt sich der die einzelnen Teile der Sinfonie vereinende Gehalt des Werks in seiner Botschaft gegen Tyrannei in jeglicher Form, in seiner Verachtung jeglicher Unterwürfigkeit einem offiziellen Apparat gegenüber und in seinem Bestreben, die Gegenwart im Kontext der Vergangenheit darzustellen. Die Sinfonie wurde am 18. Dezember 1962 mit großem Publikumserfolg in Moskau uraufgeführt, doch das “Tauwetter” neigte sich dem Ende zu und die sowjetischen Behörden sorgten dafür, daß weitere Aufführungen keine Zustimmung mehr fanden. Wie Elizabeth Wilson in ihrem Buch über Schostakowitsch schreibt, veröffentlichte Evtuschenko - zur Beschämung und Bestürzung des Komponisten - eine revidierte und verharmloste Fassung von “Babi Jar”; doch Schostakowitsch, den Evtuschenkos offenbarer Rückschritt verletzte, weigerte sich, die Musik zu überarbeiten, und änderte den Text nur geringfügig. (In diesem
Zusammenhang sei bemerkt, dass Schostakowitsch bei dieser Gelegenheit seinen größten Dirigenten verlor - Mravinsky, der um seiner eigenen Karriere willen nicht bereit war, die Premiere zu leiten. Die Ironie dieses Verrats angesichts der Botschaft des Finales dürfte dem Komponisten kaum entgangen sein!)

Obwohl ein Großteil der 13. Sinfonie alles andere als behagliche oder gar tröstliche Musik enthält, gelingt es dem Finale trotz seines leichten und komisch-satirischen Stils, sich zu einem bewegenden, an Beethoven gemahnenden Idealismus aufzuschwingen. Dies ist die Stimme von Schostakowitsch als
hochsinnigem Bürger, der für sowjetische Karrieristen nur Verachtung zeigte. Für westliche Ohren klingt dies sehr russisch - besonders in dem von Solo-Bass und unisono Bass-Chor bestimmten Timbre. (Nur an einer einzigen Stelle - am Ende des dritten Satzes - fächert sich der Männerchor für ein gewissermaßen zärtliches “Amen” zu einem harmonischen Gefüge auf.) Der Orchesterklang ist dunkel und karg, grobbehauen, an Mussorgsky erinnernd, während die Vertonung der Worte überraschend spontan wirkt, grotesk, ja brutal simplistisch. Gleichzeitig findet die Unmittelbarkeit des Gefühls Ausdruck in einer zutiefst anrührenden Zartheit und Lyrik - welches am deutlichsten vielleicht im dritten Satz zutage tritt. Ein weiteres überaus russisches Klangelement, das die Sinfonie wie ein Leitmotiv durchzieht, ist das Geläute von Glocken. Wie auch in Brittens War Requiem (das im Vorjahr veröffenlicht worden war und das Schostakowitsch später sehr bewunderte) vermittelt der Klang von Glocken auch hier ein Gefühl der Zeitlosigkeit, der Warnung, der spirituellen Unsterblichkeit. Ein weiterer ganz besonderer Klang ist der der Celesta (wie stets in seinen Sinfonien verwendet Schostakowitsch auch hier eine große Schlagzeuggruppe). Hier hören wir dieses Instrument mit einer wunderbaren Leuchtkraft am Ende der Sinfonie, in dem schönen kammermusikhaften Epilog, in dessen allerletzten Takten es sich mit Glocken und Harfe vereint. Dieser Klang verweist auf
andere vergeistigte Werkenden des späten Schostakowitsch — auf die “Unsterblichkeit" in den Versen aus Michelangelo oder auf die letzte Partiturseite der 15. Sinfonie.

In vielen zentralen Aspekten zieht diese dramatische Sinfoniekantate eine direkte Verbindung zu einem besser bekannten, rein instrumentalen Werk von Schostakowitsch - der 11. Sinfonie mit dem Titel “Das Jahr 1905”. So leitet sich der erste Satz in der Art wie hier “dokumentarische” Episoden mit einem Motiv reflektiver Unbehaglichkeit wechseln (wobei das Mottothema im ersten Satz wiederholt auftaucht und auch im zweiten zu hören ist) von seinem Requiem¬ artigen Vorgänger ab und mag uns zugleich an eine ähnliche musikdramatische Technik in Brittens War Requiem erinnern. Wie die 11. Sinfonie enthält auch dieses Werk mehrere Zitate oder ungefähre Zitate in Form von russischen Volksliedern, Märschen und Tänzen, was die dokumentarische Bedeutung des Werks noch unterstreicht. Auch an Querverweisen auf Schostakowitschs eigene Kompositionen fehlt es nicht. Der überwältigende Höhepunkt des ersten Satzes erinnert an die vergleichbare Passage in der 11. Sinfonie, ebenso wie das mehrfach wiederkehrende feierliche Epitaph desselben Satzes an das dortige Schlossplatz-Mottothema anklingt. Im zweiten Satz findet sich eine weitere unüberhörbare Anspielung - diesmal an Schostakowitschs Vertonung des Gedichts “Macpherson vor seiner Hinrichtung” von Robert Burns. Der vierte Satz führt ein Marschlied ein, das in seiner Art typisch ist für die Lieder des sogenannten “Großen patriotischen Kriegs”. Ferner gibt es zahlreiche realistische, nicht-musikalische Effekte. Hierzu gehören der Klang von Kabulsaucen-Flaschen im dritten Satz oder solch verschmitzt-ironische Einwürfe wie die auf gedämpften Trompeten gespielten Cluster von drei nebeneinanderliegenden Halbtönen, die die autoritätsverachtenden Gesten des Finales vorwegnehmen. Als an einer Stelle der Name Tolstoi fällt, unterbricht der Solist mit der Frage “Leo?”, als bestünde hier die Gefahr, den großen russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts mit einem späteren, weniger bedeutenden Autor namens Alexej Tolstoi, einem Günstling Stalins, zu verwechseln. Und der Chor antwortet lautstark mit dem Echo “Lev!”. (Dieser Scherz geht vermutlich eher auf den Komponisten zurück als auf den Dichter.)

Worte und Musik - Inhalt und Form - bilden hier ein unteilbares Ganzes. Der erste und zweite Satz, ein düsteres Requiem und ein brilliantes Marsch-Scherzo, stehen in starkem Kontrast (b-Moll - C-Dur) zueinander, sind jedoch durch ein gemeinsames Mottothema vereint, das zum Ende des zweiten Satzes ein einziges Mal kurz auftaucht. Zwei langsame Sätze leiten das Rondofinale ein. Obwohl diese drei letzten Sätze sich in ihrer Stimmung stark unterscheiden (Ruhe, Verängstigung, verspielter Humor und Idealismus), sind sie thematisch miteinander verbunden (durch die Gestalt der Cello-Bass-Melodie, mit der der dritte Satz beginnt) und folgen aufeinander ohne Pause. Dies ist die sinfonische Klammer, die die gewählte Abfolge der Gedichte umschließt: Der erste Satz — eine Verurteilung des Antisemitismus in einigen seiner besonders häßlichen Manifestierungen; der zweite - die Unzerstörbarkeit des Humors wie er sich in Wort (zum Beispiel in den Fabeln des Aesop) und Tat darstellt; der dritte - die Inthronisation der ehrlichen Arbeit, personifiziert von den Frauen Rußlands; der vierte - eine kaum verschleierte Verurteilung der Stalin-Zeit sowie der Heroismus des sowjetischen Volks; und der fünfte - Heil dem großen Mann der wirklichen Leistung, für den die Karriere erst an zweiter Stelle steht, der Karrieristen verachtet. Der echte Held dieses Satzes ist natürlich der Komponist selbst, verwundet aber unbesiegt, seiner Unsterblichkeit sicher, die wir in dieser Einspielung mehr als dreieinhalb Jahrzehnte nach jener aufsehenerregenden Moskauer Premiere unter der Leitung von Kiril Kondraschin am 18. Dezember 1962 garantieren.

Eric Roseberry



Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 13 “Babi Jar”

Es war irgendwann Ende der 60er Jahre, als uns eine diskographische Sensation allererster Güte verkündet wurde: die Erstaufnahme der 13. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch. „Banned in Russia! First Recording in the Western World!“ Eine brisante Scheibe, ganz ohne Frage. Wir alle hatten den Prager Frühling und Herbst allzu gut im Gedächtnis — es war ja gerade erst passiert —, die ohnmächtige Wut über die plattgewalzten Sprösslinge eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ war noch längst nicht verraucht: Wäre es angesichts der damaligen Wirklichkeit nicht geschmacklos, man hätte den Augenblick bewußter Erstveröffentlichung als ein perfekt abgestimmtes Marketing-Manöver bezeichnen können.

Die Spannung war also immens und wurde noch dadurch erhöht, daß der Fachhandel einige Wochen brauchte, um die „mutige ,Protest-Sinfonie“ von zwei der bedeutendsten zornigen Männer der Sowjetunion“ (so das Cover) zu organisieren. Dann war sie endlich da, und der Eindruck war merkwürdig enttäuschend. Zwar gingen der erste („Babi Yar“) und der zweite Satz („Der Humor“) unmittelbar unter die Haut, aber dann wurde es lang und länger. Viele Jahre später stellte sich diese erste, zwiespältige Begegnung als ein interpretatorisches und vor allem auch als ein Verständigungsproblem dar.Jewgenij Jewtuschenkos anklagende Gedichte hatten die Herausgeber der Schallplatte nicht einmal einer englischen Textbeilage für Wert befunden, von einem einführenden Kommentar ganz zu schweigen ...

So kam das Werk also in den Westen, etwa sieben oder acht Jahre, nachdem es am 18. Dezember 1962 im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums von Kyril Kondraschin uraufgeführt worden war — unter Begleitumständen übrigens, die von der Nervosität der Kreml-Clique ein beredtes Zeugnis ablegen: Im Premieren-Programmheft waren die Texte nicht abgedruckt worden (was freilich bei einem russischen Publikum weniger schwer wog als beim westlichen Hörer der eingangs beschriebenen Aufnahme); der gesamte Platz vor dem Konservatorium war von der Polizei abgeriegelt worden; und trotz des eindeutigen Erfolgs, den das Werk erringen konnte, beschränkte sich die „Prawda“-Meldung auf einen einzigen Satz.

Es war aber auch eine peinliche Zwickmühle, hatte sich Dimitri Schostakowitsch doch ausgerechnet solche Jewtuschenko-Lyrik ausgesucht, die einige besonders finstere Dinge beim Namen nannte, Missstände anprangerte, die im real existierenden Sozialismus einfach nicht existierendurften. Dass es so etwas Scheußliches, Menschenverachtendes wie Antisemitismus in den eigenen Grenzen geben sollte? Unmöglich. Ja, hätte sich Jewtuschenko darauf beschränkt, die Greueltaten der deutschen SS zu brandmarken, die im September 1941 in der Schlucht „Babi Yar“ bei Kiew rund 34.000 jüdische Männer,
Frauen und Kinder erschoß - das wäre als Politpropaganda der Kalten Krieger ohne weiteres durchgegangen. Aber anzudeuten, daß dieselben antijüdischen Emotionen und Aktionen auch vor der eigenen Haustür und womöglich noch in der Gegenwart stattfanden: Das hatte an der großen Glocke nichts zu suchen.

Auch die folgenden Texte boten wenig Vergnügliches. Gewiß gibt sich „Der Humor“ auf den ersten Blick als eines jener unnachahmlichen Schostakowitsch-Scherzi; doch selbst diese äußere Erscheinung trügt, denn mit Hilfe eines Selbstzitats gab der Komponist dem Satz einen Effet, der die vordergründige Ironie zum bitterbösen Sarkasmus abdriften läßt: Er verwendete das melodische Material der dritten von sechs Romanzen nach englischen Dichtungen op. 62, „Macphersons Abschied“. Darin besingt Robert Burns den schottischen Freibeuter, der im Jahre 1700 aufgeknüpft wurde. Doch auf dem Weg
zum Galgen sang und spielte er ein Lied, das er im Kerker gedichtet hatte ; dann zerbrach er seine Geige und ließ sich hinrichten — voller Todesverachtung und Spott. Das also wäre „Der Humor“!?

Danach wird es still in der 13. Sinfonie — trotz einiger recht gewaltiger Klangmassierungen. „Im Laden“: Jewtuschenko-Schostakowitsch beschreiben das Schicksal der sowjetischen Frauen. Sie haben „Beton gemischt, gepflügt, geerntet“, jetzt dürfen sie sich in eine der unzähligen Schlangen einreihen, an deren vorderem Ende es unter gewissen glücklichen Umständen ein paar Nahrungsmittel zu erstehen gibt. „Ängste “(das einzige Gedicht, das Jewtuschenko direkt für die Sinfonie geschrieben hat): eine Illusion. Die Furcht stirbt aus in Rußland? Die alten tödlichen Ängste, die Angst vor Bespitzelung und Denunzierung, die Angst, wenn’s an die Tür klopft —ja, die mögen dahin sein; doch neue stehen schon bereit...

Zum Schluss: „Eine Karriere“, ein Gedicht und Gesang von persönlicher Integrität und ungebrochenem Bekennermut, von der Fähigkeit und Bereitschaft, die Wahrheit zu sagen, auch wenn’s einen den Kopf kosten kann. Dargestellt am Beispiel des Galileo Galilei, der durch sein Fernrohr etwas gesehen hatte, was im real existierenden Katholizismus nicht hätte gesehen werden dürfen: dass das ganze Universum eben nicht Ringelreihen um den drittklassigen Planeten namens Erde tanzt. Wie bald wäre die Macht dahingewesen.

Da schließt sich der Kreis: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird Gewalt aufgeboten, alte Weltbilder fest zu rammen und in die Köpfe zu prügeln — mal auf dem Rad, mal in psychiatrischen Dissidentenwohnstätten. Und doch ist alles nur vorübergehend: Die dreizehnte Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch endet in schlichter, melancholischer, zugleich aber auch tröstlicher Schönheit. Ein Lied von der Erde?
Eckhardt van den Hoogen